Ein junger Flüchtling, der zuvor monatelang in Freiburg und Umgebung gelebt hat, verletzte sich lebensgefährlich beim Versuch mit dem Eurostar, der zwischen Paris und London verkehrt, als blinder Passagier nach London zu kommen. Seine Flucht wirft viele Fragen, u.a. die der Aufnahme, der fragwürdigen Altersschätzung, dem Abdrängen in die Obdachlosigkeit und dem Umgang mit traumatisierten Menschen.
Er wirkte wie ein Getriebener. Fahd Shahin verließ minderjährig Ägypten. Nach nur drei Jahren Schule hatte er dort schon jahrelang gearbeitet. Den Vater hatte er früh verloren. Vor allem wollte er Arbeit finden und seiner Mutter Geld schicken. Fahds Weg führte über Libyen, das Mittelmeer nach Italien. Er berichtete nur wenig von der Überfahrt. Von einem großen Schiff und vielen Problemen, tagelang unterwegs, kaum etwas zu essen und trinken. Was genau auf dem Mittelmeer stattfand, weiß nur er selbst. Irgendwann wurden er und seine Mitreisenden von einem Schiff aufgenommen und auf die Insel Lampedusa oder direkt zum italienisches Festland gebracht. Erlebnisse, die man nicht vergisst.
Nach seinen Berichten kam Fahd in Italien an und hat nach einem sicheren Platz gesucht. Sein Weg führte durch ganz Italien über Frankreich nach Deutschland, vielleicht auch über die Schweiz. Seine Angaben differieren, in widersprüchlichen Aussagen traten wohl verdrängte Traumata und ein durch die Fluchterfahrungen entwickeltes Misstrauen zutage. Wie lange er unterwegs war, wo er Station gemacht hat, was er erlebt und wie er überlebt hat, darüber hat er geschwiegen. Zu seinem Schutz.
In Freiburg hatte er endlich das Gefühl, angekommen zu sein, wie seine Freunde berichten. Er meldete sich bei den Freiburger Behörden. Fahd kam in einer Einrichtung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in der Schopfheimer Straße in Freiburg unter. Aber die Behörden stuften ihn bald als volljährig ein. Daraufhin ging die Odyssee für ihn weiter. Im Sommer 2014 sollte er Freiburg verlassen und in Karlsruhe einen Asylantrag stellen. Er wäre dort in der Landeserstaufnahmestelle auf sich gestellt gewesen wie ein Erwachsener, später einer ganz anderen Stadt zugewiesen worden. Er wollte aber in Freiburg bleiben. Nach einer Polizeikontrolle und erkennungsdienstlichen Behandlung musste er im Oktober ins Freiburger St. Josefskrankenhaus, wo die Ärzte Uhl und Kromeier ein sogenanntes „fachärztliches röntgendiagnostisches Gutachten über die objektive Altersbestimmung…“ erstellten. Darin behaupteten sie, Fahd sei „19 Jahre alt oder älter, diese Aussage kann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit getroffen werden“. Die Bundesärztekammer lehnt die Beteiligung von Ärztinnen und Ärzten die Altersfeststellung ab, da diese gesundheitsschädlich, juristisch umstritten und wissenschaftlich unhaltbar ist. Bei Fahd, der schon als Kind auf dem Bau gearbeitet hat, hat sich im Laufe der Jahre eine kräftige Hand entwickelt. Eine Altersschätzung wird damit erst recht zur Lotterie.
Im Januar 2015 begab sich Fahd doch zur Landeserstaufnahmestelle in Karlsruhe. Die Einrichtung war überfüllt. Offensichtlich war er in Karlsruhe überfordert. Er ging zurück nach Freiburg, wohl ohne feste Bleibe. Verzweifelt wandte sich Fahd im Februar 2015 erneut an das Amt für Jugend und Familie in Freiburg. Das Jugendamt protokollierte am 26. 02. 2015 seine Erklärung, dass man ihm in Karlsruhe „nicht helfe und er dort nicht mehr hingehen würde.“ „Das Gutachten und die Einschätzung der Behörden hinsichtlich seines Alters seien jedoch falsch. Er wolle und benötige die Hilfe des Jugendamt.“
Fahd wurde zum Polizeirevier Nord gebracht, erkennungsdienstlich behandelt und dort zurückgelassen, da seine Volljährigkeit bereits festgestellt wurde. Das Jugendamt sah sich für ihn nicht zuständig. In seiner Ausweglosigkeit meldete er sich einen Tag später unter einem anderen Namen beim Jugendamt in einem benachbarten Kreis. Er wurde in Obhut genommen und kam in einer Pflegefamilie unter.
Im Mai 2015 wurden ihm erneut die Fingerabdrücke genommen. In diesem Zusammenhang wurde festgestellt, dass er bereits in Freiburg in Obhut war und dort eine sogenannte Altersbestimmung stattfand. Die Vormundschaft wurde aufgehoben. Schon einen Monat vor dem Beschluss musste er die Pflegefamilie verlassen. Er kam privat und ohne staatliche Unterstützung unter.
Fahd besorgte sich eine Kopie von seiner Geburtsurkunde und ließ diese übersetzen. Die Kopie der Geburtsurkunde bestätigt seine Minderjährigkeit: Geboren 1998, wird er im November dieses Jahres 17 Jahre alt. Nach seinen Angaben ging er mit der Urkunde erneut zum Jugendamt Freiburg. Dort wurden Kopien angefertigt. Mehr ist nicht bekannt. Am Montag den 27. Juli 2015 verließ Fahd die Wohnung, in der er zuletzt gewohnt hat, ohne weitere Angaben. Er berichtete von einem Gespräch mit der Polizei, dass sie ihm gesagt hätten, dass er in Deutschland mit den unterschiedlichen Namensangaben keine Chance mehr hätte. Sein Entschluss zu gehen stand für ihn fest.
Zwei Tage später kam die schreckliche Nachricht, dass ein Minderjähriger im Bahnhof „Gare du Nord“ in Paris um 14.00 Uhr eine Lokomotive des Eurostar, der zwischen London und Paris verkehrt, besteigen wollte und Kontakt mit der Oberleitung bekam. Das war Fahd aus Freiburg. Er erlitt schwere Verbrennungen und kam in das Hôpital Saint-Louis in Paris. Gesicht, Brust und Beine sollen schwer verbrannt sein. In den ersten 48 Stunden war unklar, ob er den Unfall überleben würde. Spezialisten wurden ins Krankenhaus gerufen. Selbst Vertreter der angehörigen Botschaft kamen zum Krankenhaus. Die internationale Presse berichtete im Zusammenhang mit den zehn Todesfällen von jungen Menschen seit Juni 2015 am Euro-Tunnel in Calais auch über Fahd.
Er war weitergeflüchtet und wollte nach Großbritannien, weil er nicht mehr an eine Hilfe in Freiburg glaubte. Zuviel Ablehnung hat er erlebt. Er glaubte an eine neue Chance jenseits des Ärmelkanals.
Fahd, ein junger Geflüchteter, der nichts anderes wollte als Ankommen, etwas Geld verdienen, war wie ein Getriebener durch verschiedenen Länder unterwegs. Auf seine Traumatisierung, die im Zusammenhang mit seiner Flucht entstanden ist, ist wohl niemand eingegangen. Tatsächlich hat er zu niemanden Vertrauen gehabt, hat nicht viel gesprochen und war immer noch auf der Flucht. In Freiburg hatte er das Gefühl am richtigen Platz angekommen zu sein. Er hat dies auch gegenüber dem Jugendamt in Freiburg erwähnt, „Er wolle und benötige die Hilfe des Jugendamt.“ Mehrfach hat er dies gegenüber den Behörden deutlich gemacht. Letztendlich ist er in den Mühlen der Vorschriften und Gesetzgebung, einer zweifelhaften Altersschätzung und der ständigen Kontrolle und Überwachung zerrieben und alleingelassen worden. Er war zur weiteren Flucht gezwungen und sah offenbar keine andere Möglichkeit mehr als den lebensgefährlichen Sprung auf den Zug. Bei Fahd hätte nicht die Frage im Vordergrund stehen dürfen, ob er 17, 18 oder 19 Jahre alt ist sondern die Behandlung seiner Traumatisierung. Fahd ist ein weiteres Opfer europäischer Asylpolitik.
Die Geschichte muss erzählt werden, da es sonst nur bei der Schlagzeile eines Unfalles eines jungen Mannes aus Ägypten im Gare du Nord bleibt.
Freiburger Forum aktiv gegen Ausgrenzung