„Wir stehen hier alle unter Schock“
OTZ Press: Im Flüchtlingsheim Gerstungen starb unbemerkt ein Mann, dessen Leiche erst Tage später aufgefunden wurde. Die Menschen im Heim sind wütend, weil sie von den Behörden mit ihren Ängsten alleingelassen werden. Gerstungen. Ein Mann ist gestorben. Michael Kelly, 37 Jahre alt. Und niemand hat es bemerkt.
Am 20. September, es war ein Dienstag, öffnete eine Angestellte der Gemeinschaftsunterkunft Gerstungen mit ihrem Generalschlüssel das von innen verschlossene Zimmer 213. Es war, hieß es , der Geruch.
Man brachte seine Leiche ins Klinikum Jena, die zuständige Staatsanwaltschaft Meiningen ordnete eine Obduktion an. Michael Kelly war ein kranker Mann. Er starb, ergab die Untersuchung, an den Folgen einer schweren Lungenentzündung und einer vorausgegangenen schweren Immunschwäche. Einen genauen Todeszeitpunkt nennt der vorläufige Obduktionsbericht nicht.
Ein Fremdverschulden wurde ausgeschlossen, Michael Kelly starb eines natürlichen Todes. Für die Staatsanwaltschaft ist der Fall im Grunde abgeschlossen.
Warum starb Michael Kelly allein im abgeschlossenen Zimmer der Flüchtlingsheims? Hat er vielleicht Hilfe verweigert oder hätte er durch rechtzeitige Hilfe gerettet werden können? In welcher Verantwortung steht dabei die Leitung des Hauses und dessen Träger, das Landratsamt des Wartburgkreises?
Wie kann es sein, dass die Leitung des Hauses das Fehlen eines offensichtlich schwer kranken, allein lebenden Mannes erst nach Tagen bemerkt? Und das nur, weil sich ein Geruch ausbreitet?
Fragen, die in den Akten der Staatsanwaltschaft nicht beantwortet werden, weil sie niemand gestellt hat.
Einsames Sterben im abgeschlossenen ZimmerFragen, die auch die Bewohner des Heims bewegen. Vor allem die Frage, warum sich keine Behörde veranlasst sah, mit ihnen darüber zu sprechen. Niemand, der sich ihre Fragen angehört hat, niemand, der auf ihre Verunsicherung und ihre Ängste eingegangen ist.
Sie haben gesehen, wie die Polizei kam, der Arzt. Wie der Tote im Plastiksack durch das Haus nach draußen getragen wurde. Sie haben gesehen, wie das Personal mit Mundschutz das Zimmer desinfiziert hat und spürten den Geruch des Todes, der über die Flure kroch.
Dann fuhren die Wagen weg, es begann das Schweigen.
„Was glauben die, wie es uns hier damit geht? Warum spricht niemand mit uns? Es gibt hier keinen Respekt für Menschen wie uns.“ Ali Rexha, ein Familienvater aus dem Kosovo, kann seine Wut nicht zügeln. Er holt eine Zeitung mit der mageren Verlautbarung des Landratsamtes aus dem Schrank und knallt sie auf den Tisch. Michael Kelly, heißt es, wurde am 16. September das letzte Mal lebend gesehen. Ein Freitag. Am folgenden Dienstag fanden sie ihn.
Ali Rexha will das nicht glauben. Seit zwei Wochen, sagt er, hat ihn niemand gesehen. Er hat im Treppenhaus gewartet, nachdem sie den Toten fanden. Drei Stunden, sagt er, hat es gedauert bis die Polizei kam. Drei Stunden! Er habe, sagt er, den Arzt sagen hören, der Mann sei seit zwei Wochen tot.
Das Zimmer 213 liegt ganz am Ende des Flures, neben dem Fenster mit der Brandschutztreppe. Vor der Tür liegen noch ein paar blaue Schutzhüllen für die Schuhe.
„Wir stehen hier alle unter Schock“
Schräg gegenüber öffnet eine junge Frau die Tür. Am Tisch kritzelt ihre kleine Tochter in einem Heftchen. Die Frau kommt aus dem Kaukasus, spricht nur Russisch. Wir stehen, sagt sie, alle unter Schock. Wir wohnen hier mit zwei Kindern. Dort gegenüber ist ein Mann gestorben und niemand wusste es. Wenn er so krank war, warum hat ihm niemand geholfen?
Ob sie gefragt hat? Wissen Sie, hier stellt man solche Fragen nicht. Ein bitteres Lächeln liegt auf den Lippen. Man bekommt sowieso keine Antwort. Er hat vielleicht Hilfe gebraucht, sagt sie noch.
Michael Kelly war ein scheuer Mensch. Kaum einer im Heim kennt ihn näher. Er war noch kein halbes Jahr hier. Es heißt, er stammt aus Liberia. Er hat nicht viel geredet, erinnert sich Mohsen Azadbakht, ein Mitbewohner. Traurig wirkte er, und sehr krank, hustete stark und hatte kaum Kraft. Einmal hat er ihn angesprochen, draußen im Hof. Es brennt so in der Brust, sagte Michael Kelly. Du musst ins Krankenhaus, hatte er ihm geantwortet.
Als sie seine Leiche aus dem Haus zum Auto brachten, hat er mitgetragen.
Er soll eine Frau und einen Sohn in Spanien haben, fügt Nassan Hussein, ein Kurde aus Syrien, hinzu. Auch er hat gehört, dass der Mann schon länger als eine Woche tot im Zimmer lag. Im Krankenhaus in Jena war er. Als er zurückkam, wirkte er etwas erholt. Manchmal sah er ihn auf dem Flur. Dann hat er schweigend aus dem Fenster mit der Brandschutzleiter gestarrt. Warum hat er allein geschlafen, wo er doch so krank war?
Nassan Hussein zieht langsam an seiner Zigarette, schweigt, als lausche er seinen Zweifeln hinterher. Eigentlich gab es hier nur einen, mit dem er manchmal länger sprach. Ein Mann aus Afrika, wie er. Aber dieser Mann will nicht reden. Er öffnet seine Tür nur einen Spalt.
Kein Wort, bitte, ich möge entschuldigen.
Er hat Angst, sagt Mohsen Azadbakht.
Er ist enttäuscht und wütend, sagt Hassan Siami. Er weiß es, mit ihm hat er über Michael Kelly geredet. Über die Einsamkeit, die Scheu mit anderen zu sprechen, die hastige Vorsicht, niemanden in sein Zimmer zu lassen. Aber niemand von den Behörden hat ihn danach gefragt. Niemand hat sich für Michael Kellys Leben in diesem Haus interessiert, bevor er hier seinen einsamen Tod starb.
Hassan Siami lebt in Jena und gehört zu Unterstützern von „The Voice“, einem Netzwerk für Flüchtlinge. Dessen Aktivisten fordern eine lückenlose Aufklärung. Auch der Thüringer Flüchtlingsrat fordert das. Wie ein Mensch unbemerkt sterben kann in einem Haus, in dem regelmäßig die Anwesenheit kontrolliert wird. Um sicherzugehen, dass die Flüchtlinge ihrer Residenzpflicht nachkommen. Längere Abwesenheit wird mit der Kürzung der Gutscheine bestraft. „Nur sterben kann man hier unbemerkt“, konstatiert bitter „The Voice“. Nach Informationen dieser Zeitung litt Michael Kelly an einer fortgeschrittenen HIV-Erkrankung.
Das Heim Gerstungen hat einen schlechten Ruf
Aus dem Landratsamt heißt es, man möge von einem Besuch in Gerstungen absehen. Fragen werden schriftlich beantwortet. Tägliche Kontrollgänge durch die Zimmer, heißt es, seien abgeschafft. Michael Kelly habe sich in medizinischer Behandlung befunden.
Das Universitätsklinikum Jena bestätigt, dass Michael Kelly dort vom 29.6. 2011 bis zum 7. 7. stationär behandelt wurde. Man habe eine Therapie gegen die Immunschwäche eingeleitet, der Patient habe sie gut vertragen. Allerdings habe man sich sehr um die regelmäßige Medikamenteneinahme bemühen müssen. Als er entlassen wurde, sei er in einem guten und stabilen Allgemeinzustand gewesen. Das Angebot einer Betreuung in einer regelmäßigen Sondersprechstunde des Klinikums habe er leider nicht angenommen.
Michael Kelly sei zuletzt am 16. September 2011 gesehen worden, sagt das Landratsamt. Im Heim erzählen es die Bewohner anders. Man möge bedenken, heißt es in der zuständigen Polizeidirektion Gotha, dass in einer solchen Situation schnell Gerüchte entstehen. Aber ja doch.
Das Heim, eine ehemalige heruntergekommene Kaserne, liegt isoliert am Ortsrand. Das eiserne Tor steht offen, aber wohin soll man gehen, außer zum benachbarten Pennymarkt, um Gutscheine gegen Lebensmittel einzutauschen. Eine Gemeinschaftsküche, je ein Bad für Männer und Frauen auf einer Etage. Es gibt kaum Intimsphäre, dafür Schimmel in den Zimmern, der penetrante Geruch nach altem Fett und Öl in jedem Winkel.
77 Flüchtlinge leben hier, viele schon seit Jahren. Nassan Hussein, der Kurde aus Syrien, seit zehn. Der Iraner Mohsen Azadbakht, der in seiner Heimat den Tod fürchtet, seit sechs. So lange wie Ali Rexha, der Kosovare. Seine Tochter hat hier die Schule beendet, spricht kaum Albanisch, aber fließend Deutsch und würde gern eine Ausbildung machen. Das darf sie aber nicht, weil sie nur eine Duldung hat.
Das ganze Haus ist voll solcher Geschichten. Ein Leben im Abseits. Ein Leben im Leerlauf, ein Leben, dass aus Warten besteht. Nur der Fernseher läuft. Dann stirbt hier unbemerkt ein Mann.
Und niemand hält es für nötig, auf die Menschen einzugehen, in deren Lebensumfeld das geschah. Natürlich entstehen da Gerüchte. Und Angst, und das Gefühl von Hilflosigkeit, von Isolation, von Missachtung auch. Möglich, der Tod von Michael Kelly war eine unausweichliche Folge von Krankheit und tragischer Umstände. Möglich, die Angestellten im Haus und die zuständigen Behörden haben sich genau an die Vorschriften gehalten.
Aber es gibt auch einen Umgang mit diesem Tod, der liegt im menschlichen Ermessen. Man erarbeite derzeit, heißt es aus dem Landratsamt, eine zweisprachigeInformation für die Bewohner.