Keine Demokratie ohne globale Bewegungsfreiheit
Die Dynamik des arabischen Frühlings strahlt aus in die ganze Welt. Die Aufstandsbewegungen im Maghreb machen Mut und Hoffnung, nicht nur weil despotische Regime verjagt werden, die vor kurzem noch unüberwindbar erschienen. So offen die weiteren Entwicklungen bleiben, im Dominoeffekt der tunesischen Jasminrevolution meldet sich in atemberaubender Schnelligkeit die alte Erkenntnis zurück, dass Geschichte von unten gemacht wird. Die Kämpfe richten sich gegen die tägliche Armut wie auch gegen die allgemeine Unterdrückung, es geht gleichermaßen um bessere Lebensbedingungen wie um Würde, kurz: um „Brot und Rosen“.
Die unglaublichen Tage auf dem Tahrirplatz in Kairo stehen für die Suche nach neuen Formen der Selbstorganisierung und Basisdemokratie. Der Wunsch nach gleichen Rechten, nach Autonomie und Teilhabe am wirtschaftlichen Reichtum, spiegelt sich aber auch in den Booten Richtung Europa wieder: jetzt aus Tunesien, seit Jahren aus Nord- und Westafrika. „Exit“ – sich die Bewegungsfreiheit zu nehmen und zu migrieren, um ein anderes, besseres Leben zu finden, und „Voice“ – die Stimme zu erheben und den Kampf vor Ort zu führen, sind keine Gegensätze, sie stehen vielmehr in einem lebendigen Wechselverhältnis.
Das hatten – noch offenkundiger – bereits die Umbrüche 1989 gezeigt. Die Abstimmung mit den Füßen katalysierte damals die Protestbewegungen gegen das realsozialistische Unterdrückungsregime. Die Mauer ist auch deshalb gefallen, weil die Menschen ihre Bewegungsfreiheit durchgesetzt haben. Um so verlogener erscheint heute die Freiheitsrhetorik westlicher PolitikerInnen, die angesichts der Migrationsbewegungen aus und über Nordafrika einmal mehr das Bedrohungsszenario der Überflutung bemühen, gegen die nun die europäische Grenzschutzagentur Frontex in Stellung gebracht wird.
Die EU-Regierungen haben die nordafrikanischen Machthaber hofiert und gestützt und sich in den letzten Wochen zögerlich bis bremsend gegenüber den Aufstandsbewegungen verhalten. Dahinter stecken starke ökonomische Interessen, aber auch die gewachsene Kollaboration in der Migrationskontrolle. Despoten wurden umso wichtigere „Partner“, je effektiver sie als Wachhunde für ein vorverlagertes EU-Grenzregime fungierten. Migrationsbewegungen aus Afrika sollten um jeden Preis eingedämmt werden.
Tausendfacher Tod und Leid nicht mehr nur auf See, sondern auch in den Wüsten und Internierungslagern waren und sind die Folgen dieser schändlichen Komplizenschaft. Die subsaharischen MigrantInnen, die aktuell in Libyen Opfer pogromartiger Hetzjagden werden, sahen sich unter dem Gaddafi-Regime seit Jahren einer systematischen Entrechtung, Willkür und Misshandlungen ausgeliefert. Die EU hat dem libyschen Diktator Millionen gezahlt und Überwachungstechnik geliefert, eine ähnliche Kooperation gibt es mit dem marokkanischen Machthaber, und bis vor kurzem auch mit dem tunesischen Regime. Die arabischen Revolutionen markieren jetzt das mögliche Scheitern dieses brutalen Ausgrenzungsprojekts der EU im Mittelmeerraum.
Mit den gezielt medial gestreuten Befürchtungen über einen Kollaps der Migrationskontrolle wird nun die weitere Verschärfung und Militarisierung des EU-Grenzregimes legitimiert, verkörpert durch Frontex. Die europäische Grenzschutzagentur ergänzt und erweitert die nationalen Kontrollsysteme, die seit Jahrzehnten auf Abschreckung und Kriminalisierung der Migrationsbewegungen zielen. Frontex soll – wie bereits vor der westafrikanischen Küste oder an der griechisch-türkischen Grenze – nun auch verstärkt vor Nordafrika zum Einsatz gebracht werden.
Italien erhält die Federführung für diese „Operation Hermes“. Das ist konsequent und schockierend ehrlich: In Folge des Schulterschlusses zwischen Berlusconi und Gaddafi kam es in den letzten Jahren zu unzähligen unrechtmäßigen Rückschiebungen im Mittelmeer, der italienische Staat hat sich geradezu als Meister im Bruch aller Flüchtlingsskonventionen inszeniert. Und nicht zufällig wird kriminalisiert, wer das Leben der Boatpeople rettet. Das zeigen die Fälle der Cap Anamur oder der tunesischen Fischer, deren Prozesse in Italien noch immer andauern.
MigrantInnen suchen Schutz oder ein besseres Leben in Europa. Sie wandern gegen ein Reichtumsgefälle, das ganz wesentlich in den neokolonialen Dominanz- und Ausbeutungsverhältnissen zwischen Europa und Afrika begründet liegt. In Europa muss sich der universelle Anspruch auf Freiheit und Demokratie deshalb am Umgang mit denjenigen messen lassen, die auf dem Weg der Migration gleiche Rechte einfordern. Frontex steht für den Ausbau eines tödlichen Grenzregimes, für das in einer freien Welt kein Platz ist. Der Tod an den Außengrenzen könnte schon morgen Geschichte sein. Aber das ist politisch nicht gewollt. Stattdessen führen die EU-Verantwortlichen einen regelrechten Krieg an den Außengrenzen.
Innerhalb der EU gehören Entrechtung und Abschiebung zum rassistischen Alltag, in dem „Integration“ als Druckmittel der Anpassung und Ausbeutung in den Niedriglohnsektoren benutzt wird. Doch dieser selektive Umgang mit Migration ist mit Widerständigkeiten und Beharrlichkeiten konfrontiert, die das System der Ungleichheiten und Unfreiheiten immer wieder herausfordern. Nicht zufällig findet in dieser bewegten Zeit ein dramatischer Hungerstreik von 300 maghrebinischen MigrantInnen für ihre Legalisierung in Griechenland statt. Und verstärkt flackern Bleiberechtskämpfe und migrantische Streiks quer durch Europa auf, seit Sans Papiers – insbesondere aus Afrika – vor 15 Jahren in Paris mit der Forderung „Papiere für Alle“ in die Öffentlichkeit traten.
Der Aufbruch in Nordafrika zeigt, was alles möglich ist. Es geht um nicht weniger als um ein neues Europa, ein neues Afrika, eine neue arabische Welt. Es geht um neue Räume der Freiheit und Gleichheit, die es in transnationalen Kämpfen zu entwickeln gilt: in Tunis, Kairo oder Bengazi genauso wie in Europa und den Bewegungen der Migration, die die beiden Kontinente durchziehen.
8. März 2011
Afrique-Europe-Interact
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Netzwerk Kritische Migrations- und Grenzregimeforschung
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