taz nord 28.12.2010 / VON EMILIA SMECHOWSKI
Einer gehörlosen Mutter wird ihr hörendes Kind weggenommen.
Sie könnten nicht ausreichend kommunizieren, so das Jugendamt. Das Oberlandesgericht soll jetzt entscheiden, ob der Junge zur Tante kommt.
Annette S. durfte ihrem Sohn Antonio zu Weihnachten eine E-Mail schreiben, mit ihm feiern konnte sie nicht. Sie weiß nicht, wie es ihm geht, nur, dass der Siebenjährige seit acht Tagen in einem Kinderheim irgendwo in Schleswig-Holstein wohnt. Annette S., 42 Jahre und Hauswirtschafterin in Hamburg, ist gehörlos, ihr Sohn hörend. Seit zwei Jahren schon wohnt er nicht mehr bei ihr, das Jugendamt Hamburg-Wandsbek hatte Antonio eines Oktobertages 2008 in eine Pflegefamilie gebracht. Begründung: Kommunikation und Interaktion zwischen Mutter und Sohn seien stark gestört und das Kindeswohl somit gefährdet. Die Mutter sei psychisch labil und könne ihren Sohn deshalb nicht behalten, schreibt das Jugendamt weiter. „Psychische Probleme habe ich, weil Antonio mir weggenommen wurde“, sagt Annette S. „Das würde jeder Mutter so gehen.“ Nach sechs Monaten fällt das Amtsgericht Barmbek die Entscheidung: Es entzieht Annette S. das Sorgerecht für ihren Sohn vollständig.
Doch bei der Pflegefamilie läuft es nicht gut mit Antonio. Die Pflegemutter sei mit dem Kind überfordert und fühle sich vom Jugendamt überhaupt nicht unterstützt, behaupten zumindest Antonios Tante Aretha S.-Apithy und der Anwalt der Familie, David Schneider-Addae-Mensah. Die Pflegefamilie selbst war für eine Stellungnahme nicht zu erreichen. Fest steht: Antonio musste jetzt, nach zwei Jahren, ins Heim.
Gegen den Beschluss des Amtsgerichts von 2008 ist eine Beschwerde der Mutter anhängig, der Fall soll jetzt im Januar vor dem Oberlandesgericht (OLG) verhandelt werden. Die Forderung, Antonio wieder der Obhut seiner Mutter zu überlassen, wurde jedoch bereits abgelehnt. Geprüft werden soll lediglich, ob der Junge zu seiner Tante Aretha S.-Apithy ziehen kann. Sie ist Pädagogin und lernt die Gebärdenspräche, wohnt jedoch in Berlin. Dennoch wäre Annette S. mit dieser Übergangsregelung einverstanden – bis Antonio wieder zu ihr ziehen kann.
Sorgerechtsregelung
Das Recht und die Pflicht der Eltern, ihre Kinder zu erziehen, sind im Grundgesetz verankert. Eingeschränkt gilt das Recht, wenn das Kindeswohl gefährdet ist. Worin das Kindeswohl genau besteht, entscheidet von Fall zu Fall das Familiengericht.
Das gängige Prozedere: Das Jugendamt beobachtet und hilft der Familie. Eine amtliche Kindesentziehung bedarf eines vorherigen Gerichtsbeschlusses. Bei Gefahr im Verzug dürfen Behörden sofort handeln. Um etwa 50 Prozent gestiegen ist die Zahl der Fälle von Sorgerechtsentzug seit 1991. 2009 wurde in 12.000 Fällen das Sorgerecht vollständig oder teilweise entzogen, so das Statistische Bundesamt. „Natürlich war die Kommunikation zwischen Antonio und mir nicht immer einfach“, sagt sie weiter. „Aber genau deshalb wollte ich mir doch vom Jugendamt helfen lassen!“ Sie hatte aus freien Stücken Familienhilfe beantragt und bat um Unterstützung beim Gebärdenunterricht für Antonio. Nun fühlt sie sich betrogen, weil das Jugendamt ihr stattdessen das Kind weggenommen hat. Heute sieht sie Antonio alle zwei Wochen, für zwei Stunden. Ob auf dem Spielplatz, im Schwimmbad oder beim Eis-Essen – eine Mitarbeiterin vom Jugendamt ist immer dabei. „Es ist fast nicht zu ertragen, dass ich nie mit meinem Kind allein sein kann“, sagt sie. Bis zu diesem Moment hat Annette S. ruhig und gefasst ihre Geschichte erzählt. Jetzt fließen ihr die Tränen übers Gesicht. „Mein Sohn entfernt sich immer mehr von mir“, sagt sie. Jetzt sei die Kommunikation tatsächlich gestört: Antonio gebärdet kaum noch.
Anwalt Schneider-Addae-Mensah beanstandet das vom Amtsgericht eingeholte Gutachten. „Die Sachverständige beherrscht keine Gebärdensprache und war somit nicht kompetent genug“, sagt er. Sie hatte festgestellt, dass Annette S. sich als Opfer fühle, da sie „schwarz und gehörlos“ sei, sie misstraue der hörenden Welt. Ihre Kommunikation mit ihrem Sohn sei geprägt außerdem von zwei gegensätzlichen Kulturen. „Ihr Weltwissen ist eingeschränkter als das von Hörenden“, schrieb die Gutachterin. Deshalb könne sie Antonio nicht erziehen.
Das kann Cornelia Tsirigotis nicht bestätigen. Kinder gehörloser Eltern dürfe man nicht ihrer Zweisprachigkeit entziehen, sagt die Familientherapeutin und Leiterin einer Hörgeschädigten-Schule. „Grundsätzlich sollte man einer gehörlosen Mutter Hilfe an die Seite stellen, ohne ihr das Kind wegzunehmen“, sagt sie. So könne die Mutter-Kind-Interaktion weiter bestehen bleiben. „Gehörlose Eltern sind nicht zwangsläufig schlechte Eltern.“
Das Jugendamt äußert sich aus Datenschutz-Gründen nicht zu dem Fall, ebenso wie das Kinderheim. Die Schwester Aretha S.-Apithy und der Anwalt haben jetzt eine Welle an öffentlicher Aufmerksamkeit für Antonios Fall losgetreten. Sie schrieben Gehörlosen-Foren an, den Afrikarat und wollen im Notfall vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen. Anwalt Schneider-Addae-Mensah hat sogar seinen alten Jura-Kommilitonen, Hamburgs Ersten Bürgermeister Christoph Ahlhaus, persönlich angeschrieben. Der reichte den Brief an die Justizbehörde weiter. Eine Antwort kam bisher noch nicht.