politik – Süddeutsche Zeitung
23.10.2010, 19:59
Von Enver Robelli
„Sie landen im Nichts, sie werden hungern“: Deutschland schiebt seit dem Frühjahr Tausende geflohene Roma in den Kosovo ab – mitten hinein in Armut und Hoffnungslosigkeit.
Allein schon das Wort Abschiebung kann Haxhi Zylfi Merxha in Rage versetzen. Auf Deutschland ist er in diesen Tagen nicht gut zu sprechen. Er ist empört, dass mehrere Bundesländer Hunderte Roma zurück in den Kosovo schicken. „Wohin sollen sie kommen? Hier landen sie im Nichts, sie werden hungern, der Winter steht bevor und viele haben kein Dach über dem Kopf. Der Kosovo ist das Armenhaus Europas, die Hälfte der Bevölkerung lebt am Rande der Existenz“, sagt Merxha. Der Mann trägt eine Brille, einen sorgfältig gestutzten Bart und einen eleganten Anzug. Haxhi ist ein Ehrentitel für einen Muslim, der die Pilgerfahrt nach Mekka absolviert hat.
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Im Alltag hat Zylfi Merxha mehrere Funktionen. Er ist Präsident einer Roma-Partei und Abgeordneter im Parlament des Kosovo. Dort vertritt er die Interessen seiner Volksgruppe. Oft ist er der einzige Politiker, der mit seinen Forderungen den Menschen aller Ethnien aus dem Herzen spricht. Während die kosovo-albanischen Politiker über die Privatisierung der Post- und Telekom-Gesellschaft streiten und hochtrabende Pläne für neue Autobahnen und Kohlekraftwerke verkünden, verlangt Zylfi Merxha mehr Arbeitsplätze, eine bessere Integration der Roma in die Gesellschaft und Ausbildungsmöglichkeiten für die Jugendlichen. Er ist und bleibt ein bodenständiger Politiker. Händeringend bittet Merxha die Regierung in Berlin, die Ausweisung von Roma auszusetzen – bisher ohne Erfolg.
Im April haben die Innenminister der Bundesrepublik und des Kosovo ein sogenanntes Rücknahmeabkommen unterzeichnet. Etwa 13000 Roma, Ashkali und Ägypter sollen in den nächsten Jahren in den Kosovo abgeschoben werden. Die Regierung des fragilen Balkanstaates hat mit mehreren europäischen Ländern solche Abkommen unterzeichnet. Damit verbunden ist die Hoffnung sowohl auf eine Aufhebung der Visumspflicht für kosovarische Bürger als auch auf eine schnellere Integration in die EU. Die Chancen dafür sind jedoch schlecht. Der Kosovo leide unter dem organisierten Verbrechen und sei eine Schmuggelroute für Drogen aus Afghanistan in Richtung Westeuropa, kritisierte Bundesinnenminister Thomas de Maizière, kurz nachdem er seine Unterschrift unter die Vereinbarung gesetzt hatte. Sein Kollege Bajram Rexhepi fühlte sich brüskiert, gelobte aber Besserung.
Seit dem Frühling landen Sondermaschinen aus Düsseldorf und Stuttgart auf dem Flughafen von Pristina. Die Ankunftszeiten sind auf keiner Tafel vermerkt, man will die Roma möglichst diskret in Notunterkünfte bringen. Meistens werden sie in schäbige Motels in der Umgebung der Hauptstadt Pristina einquartiert. Dort können sie etwa zehn Tage lang bleiben und werden von einer dubiosen Nichtregierungsorganisation unterstützt, die „Projekt 03“ heißt. Gemäß Recherchen der lokalen Tageszeitung Koha ditore stecken hinter dieser Organisation vor allem Journalisten des öffentlich-rechtlichen Fernsehens RTK. Die Regierung hat ihnen Geld für die Betreuung der Roma zur Verfügung gestellt – als Dank für gefällige Berichterstattung. Während unabhängige Medien die Korruption anprangern, singt das Staatsfernsehen Lobeshymnen auf die Regierung. Nach Ablauf dieser Betreuungsfrist sind die jeweiligen Gemeinden für die Rückkehrer zuständig.
Sie kamen in ein fremdes Land
Die neunköpfige Familie Mujolli lebt nun in Fushë Kosovë, unweit des berühmten Amselfelds. Sie wurde im März abgeschoben. Die Polizei habe um sechs Uhr morgens die Wohnung im nordrhein-westfälischen Ahaus gestürmt und der Familie nur zwei Stunden zum Packen gewährt, sagt der 46-jährige Familienvater Florim Mujolli. Nach 19 Jahren mussten die Mujollis Deutschland verlassen. Sie kamen in ein fremdes Land. Die Kinder sind in Deutschland geboren, sie sprechen fließend Deutsch, in Ahaus haben sie die Schule besucht und Freundschaften geschlossen. „Hier kennen wir niemanden“, sagt Mujolli. Die Familie gehört der albanisch sprechenden Volksgruppe der Ashkali an, die oft mit Roma verwechselt wird. Nach Angaben von Hilfsorganisationen gehen drei Viertel der Kinder, die Deutschland ausgewiesen hat, nicht zur Schule. Auch die Kinder der Familie Mujolli warten noch auf die Einwilligung des Direktors, der zuerst Geburtsurkunden, Zeugnisse und Bescheinigungen im Original sehen will.
Kinder leiden unter Zwangsrückführung
Florim Mujolli und seine Frau verließen den Kosovo im Jahr 1991, als das Regime von Slobodan Milosevic auf dem Balkan durch Völkermord und Massenvertreibungen Angst und Schrecken verbreitete. Seither sind die Roma, Ashkali und Ägypter des Kosovo ethnische Gruppen ohne Heimat. Häufig müssen sie sich gegen Pauschalurteile wehren. Noch heute werden sie als Kollaborateure der Serben beschimpft. Während des Terrors der Belgrader Truppen gegen die Kosovo-Albaner sollen sie die Drecksarbeit verrichtet haben, so die Vorwürfe.
Die Mujollis können noch bis Ende des Jahres in dem kleinen Haus in Fushë Kosovë bleiben, die Miete zahlt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Was danach geschieht, ist ungewiss. Genauso ungewiss ist das Schicksal der zweijährigen Tochter Selina, die schwerkrank ist. Weil ihre Atmung im Schlaf oft aussetzt, muss sie medizinisch behandelt werden. Zudem braucht sie spezielle Milch und Medikamente, die monatlich mehr als 100 Euro kosten. Im Gesundheitswesen des Landes herrschen katastrophale Zustände. Wer kein Geld hat, um Ärzte zu bestechen, wird schlecht oder gar nicht behandelt. „Deutschland“, sagt Florim Mujolli bitter, „hat die kleine Selina zum Tode verurteilt.“ Sein 14-jähriger Sohn Rrahman sagt, er träume oft von einer Rückkehr nach Deutschland. Täglich sei er über Facebook mit Freunden in Kontakt. Viele Roma, die abgeschoben werden, verlassen den Kosovo sofort wieder. Sie reisen weiter nach Serbien, wo sie in die Hände von Menschenschmugglern geraten und nach Westeuropa gebracht werden. „Hier bleibe ich nicht“, sagt auch ein Mann auf dem Flughafen von Pristina, der unfreiwillig aus Deutschland zurückgekommen ist.
Die Rückführung stößt auf heftige Kritik. Der Menschenrechtskommissar des Europarats, Thomas Hammarberg, sprach nach einem Besuch im Kosovo von einem Skandal. Die Menschenrechtsbeauftragte der Vereinten Nationen, Navi Pillay, kritisierte kürzlich, die Abschiebung der Roma habe „verheerende Folgen für die Rechte der Kinder, auch für ihr Recht auf Bildung“. In einer Unicef-Studie heißt es: „Kinder aus Familien der Roma, Ashkali und Kosovo-Ägypter, die in den kommenden Jahren aus Deutschland in den Kosovo abgeschoben werden sollen, haben dort kaum eine Perspektive auf Schulbildung, medizinische Hilfe und gesellschaftliche Integration. Das Wohl der Kinder spielt in den politischen und gesetzlichen Vorgaben auf deutscher und kosovarischer Seite praktisch keine Rolle, obwohl fast die Hälfte der Betroffenen Kinder sind.“
Im Kosovo leben nach Schätzungen lokaler Behörden etwa 35000 Roma. Die bisherigen Regierungen und die vielen internationalen Verwaltungen haben seit dem Ende des Krieges vor zehn Jahren die Probleme der Roma und Ashkali ignoriert. Erst vergangene Woche wurde das berüchtigte bleiverseuchte Flüchtlingslager Cesmin Lug im serbischen Nordteil von Mitrovica geschlossen. Hunderte Roma und Ashkali lebten dort in unmittelbarer Nähe der Abraumhalde einer Bleimine – trotz Protesten von Menschenrechtlern. Cesmin Lug galt als Symbol der Schande für die gescheiterte Integration der Roma im Kosovo. Die letzten Bretter- und Wellblechbuden sind dort abgerissen, und die 50 Roma-Familien haben inzwischen neue Häuser und Wohnungen in einer Roma-Siedlung in Mitrovica bezogen. Doch weitere 90 Familien hausen immer noch in erbärmlichen Zuständen im Flüchtlingslager Osterode unweit von Mitrovica. Auch sie sollen bis im Sommer 2011 in neuen Wohnungen untergebracht werden. In Gjakova im Westen des Landes hat gerade der Bau von 125 Häusern für die Roma, Ashkali und Ägypter begonnen. Das sei lobenswert, sagt der Abgeordnete Haxhi Zylfi Merxha, aber die Leute brauchten vor allem eine wirtschaftliche Perspektive. „Häuser kann man nicht essen.“