Vor dem Gerichtshof für Menschenrechte wird die EU-Migrationspolitik verhandelt. 24 Flüchtlinge klagen gegen ihre Übergabe an die libyschen Behörden. Ein Protokoll / Der Freitag 10.07.2011
Es ist Mittwoch, der Gerichtssaal ist bis auf den letzten Platz besetzt, weitere Zuschauer müssen abgewiesen werden. Pünktlich um 9.15 Uhr läutet eine Glocke, das Publikum erhebt sich. Ein Gerichtsdiener verkündet: „La Cour!“ 21 Richter in dunkelblauen Roben, auf ihren Schärpen zwölf goldene Sterne, passieren eine Schwingtür.
Die Große Kammer des Gerichtshofs tritt nur bei „schwerwiegenden Fragen“ zusammen. In dem Fall Hirsi et autres contre Italie, der an diesem Tag verhandelt wird, geht es um solche Fragen. Angeklagt ist der italienische Staat.
Die 24 Kläger gehörten zu einer Gruppe von 227 Menschen, die am 6. Mai 2009 von der italienischen Grenzpolizei Guardia di Finanza auf hoher See aufgegriffen wurden. Die Flüchtinge, darunter auch Frauen und Kinder, waren mit drei Booten in Libyen aufgebrochen und nur 35 Kilometer von der italienischen Insel Lampedusa entfernt. An jenem Tag waren zufällig auch zwei Journalisten der Illustrierten Paris Match auf einem Schiff der Grenzpolizei und konnten festhalten, was passierte als die Flüchtlinge an Bord genommen wurden. Erschöpft, durstig und durchnässt brauchten sie Wasser und Medikamente. Es fiel ihnen schwer, genau zu sagen, wie lange sie schon auf dem Meer unterwegs waren. Nun jedoch wähnten sie sich in Sicherheit.
Dass die Guardia di Finanza mitnichten Kurs Lampedusa nahm, ahnten die Schiffbrüchigen nicht, während sie einen Gottesdienst abhielten und dafür beteten, alles möge ein gutes Ende nehmen. Als plötzlich die Silhouette von Tripolis am Horizont auftauchte, wurde es still auf dem Schiff. Die Flüchtlinge waren geschockt. Sie wussten, was kommen würde – eine Übergabe an die libyschen Behörden. Aus Verzweiflung zogen sich einige nackt aus und drohten mit Selbstmord. Alle wurden mit Knüppeln von Bord getrieben.
Abkommen mit Gaddafi
Im Straßburger Gerichtssaal erteilt der Vorsitzende Richter zuerst den Vertretern Italiens das Wort. Die Anwältin Silvia Coppari: „Die vorgebrachten Beschwerden sind absurd und tendenziös. Es handelt sich bei diesem Fall weniger um eine seriöse Klage als um ein ideologisches Manifest gegen die italienische Regierung und ihre Politik. Italien hat sich gemäß den Richtlinien der EU zur Abwehr der illegalen Migration verhalten. Wenn schon, müssten sich alle Staaten hier rechtfertigen.
Die Beschwerde ist als nicht zulässig zu erklären, weil keine Sicherheit über die Identität der Kläger und somit für eine individuelle Beschwerde besteht. Es handelte sich bei den Ereignissen vom 6. Mai 2009 um eine Rettungsaktion. Von Kollektivausweisung kann keine Rede sein: Eine Ausweisung kann nur stattfinden, wenn sich die Betroffenen in einem bestimmten Staat befinden. Das Umsteigen auf ein Schiff kann nicht mit dem Betreten eines Staatsterritoriums verglichen werden. Die Flüchtlinge haben kein Asylgesuch gestellt. Und falls sie keines stellen konnten, so hätten sie Rekurs einlegen können: Sie besaßen ja Mobiltelefone.“
Im Fall Hirsi et autres stützt sich die Beschwerde gegen Italien auf drei Punkte: Die Flüchtlinge seien als Gruppe zurückgeschafft worden, ohne sie vorher individuell anzuhören. Es sei ihnen das Recht auf Einspruch gegen ihre Abschiebung verwehrt worden. Vor allem aber soll Italien gegen einen der wichtigsten Artikel der Menschenrechtskonvention verstoßen haben: Artikel 3, der festlegt, dass kein Mensch Folter oder unmenschlicher Behandlung unterworfen werden darf. Daraus ist das Non-Refoulement-Prinzip abgeleitet, wonach niemand in ein Land zurückgeschafft werden darf, in dem Folter droht.
Abwesend und anwesend
Nun argumentiert Giuseppe Albenzio, zweiter Verteidiger Italiens: „Die EU kann nicht alle Migranten aufnehmen. Der europäische Pakt über Migration und Asyl sieht eine Begrenzung der Einwanderung und den Ausbau der Kontrolle der Außengrenze vor. Um dies durchzusetzen, sind die europäischen Staaten auf internationale Abkommen angewiesen. Deshalb hat die EU die Grenzschutzagentur Frontex geschaffen. Aus demselben Grund hatte Italien mit Libyen ein Abkommen geschlossen: Für den gemeinsamen Kampf gegen Terrorismus, Drogenhandel und illegale Migration.“ Libyen habe als sichere Destination gegolten, wo immerhin das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) und die Internationale Migrationsorganisation (IOM) Büros unterhielten.
Rom hatte das „Freundschaftsabkommen“ mit Gaddafi Ende 2007 ausgehandelt und sich das über fünf Milliarden Dollar kosten lassen. Bei den Ereignissen vom 6. Mai 2009 handelte es sich um eine der „Push-Back-Operationen“, wie sie der Vertrag vorsah.
Das Gericht erteilt nun Anton Giulio Lana das Wort, Anwalt der Flüchtlinge: „Wir sind heute nicht hier, um diese Operation abstrakt zu diskutieren. Es sind die Flüchtlinge, die wir ins Zentrum der Anhörung stellen möchten, es geht um die humanitäre Tragödie, die sie durchleben mussten. Wir sind hier, um über ihr Schicksal zu diskutieren, über ihr Leben, vielleicht ihren Tod. Die Bezeichnung der Operation als Rettungsaktion entbehrt der gängigen Auffassung von Rettung und Schutz: Jeder Staat ist dazu verpflichtet, das Non-Refoulement-Prinzip zu beachten, ob er nun Leben rettet oder nicht. Stattdessen wurden die Flüchtlinge getäuscht – sie waren überzeugt, nach Lampedusa gebracht und nicht in einem libyschen Hafen mit Gewalt gezwungen zu werden, das Schiff zu verlassen. Die Mobiltelefone wurden ihnen abgenommen.
Ich habe letzte Woche Ermias Berhane, einen der Kläger, getroffen. Er konnte während der NATO-Bombardements aus Libyen fliehen und hat es diesmal nach Italien geschafft. Er sprach von seinem Aufenthalt im angeblich so sicheren Libyen: Wie er in ein Lager für illegale Migranten geschafft und dort misshandelt wurde.“
Nach der Push-Back-Operation vom 6. zum 7. Mai 2009 war es Menschenrechtsorganisationen gelungen, einzelne Flüchtlinge in libyschen Lagern zu besuchen und ihre Zeugenaussagen aufzunehmen, um sie dem Straßburger Gericht vorlegen zu können. Bezeichnenderweise wurde den Klägern keine Einreiseerlaubnis erteilt, um am Prozess teilzunehmen. Deshalb hat eine renommierte Menschenrechtskanzlei aus Rom die Klage übernommen. Genau diese Umstände machen den Fall Hirsi et autres so speziell: Flüchtlinge, die in Europa nicht einmal um Asyl bitten durften, strengen einen Prozess an, zu dem sie nicht geladen werden. Um so mehr stellen sie europäische Rechtspraxis infrage, sind sie abwesend und anwesend zugleich.
Es spricht Andrea Saccucci, ebenfalls Anwalt der Flüchtlinge: „Das Gericht muss über folgende zwei Fragen urteilen: Bestand erstens das Risiko, dass die Klagenden in Libyen Misshandlung oder Folter ausgesetzt würden? Bestand zweitens das Risiko, dass sie davon in ihren Herkunftsländern bedroht waren? Die Antwort vieler Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen, die die Zustände in Libyen kennen, ist ein absolutes und bedingungsloses Ja.
Die Klagenden wurden nicht darüber informiert, dass sie auf dem Boot ein Asylgesuch stellen konnten. Die Argumentation der Regierung Italiens, sie hätten kein Gesuch gestellt, ist deshalb als hämisch zurückzuweisen. Hinzu kommt, dass es keine rechtlichen Regeln für Asylgesuche gibt, die auf Schiffen eingereicht werden. Indem die italienische Regierung die Grenzkontrolle von ihrem Territorium in Richtung Meer verschob, schuf sie einen rechtsfreien Raum. Dieses Gericht sollte die Vertragsstaaten daran hindern, solche Guantánamos auf hoher See zu errichten.“
Als Drittpartei ist das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge zum Prozess geladen. Madeleine Garlick hält für den UNHCR das Schlusswort: „Der vorliegende Fall ist für uns von besonderem Interesse. Er behandelt die Frage, welche Rechte Flüchtlinge haben, die auf hoher See aufgegriffen werden. Dieser Fall erinnert uns an das humanitäre Drama, das sich bis heute im Mittelmeer und in anderen Gewässern der Welt, etwa dem Golf von Aden, abspielt.
Was die Möglichkeit eines Asylgesuchs oder einer Beschwerde betrifft: Erstens sind Flüchtlinge, die auf See gerettet werden, körperlich und psychisch geschwächt. Zweitens wurden sie in diesem Fall von den Behörden über das Reiseziel getäuscht und dachten, ein Asylgesuch nach der Ankunft in Italien stellen zu können. Drittens haben die italienischen Behörden von den Flüchtlingen Papiere des UNHCR konfisziert, die ihren Flüchtlingsstatus bescheinigten.
In Libyen gab es schon damals kein funktionierendes Asylwesen. Die libyschen Behörden schickten eritreische Flüchtlinge in ihren Herkunftsstaat zurück, wo sie ebenfalls Misshandlungen ausgesetzt waren. Wenn dies einem Staat nicht bekannt war, so konnte er es in Erfahrung bringen. (…) Festzuhalten ist, dass in diesem Fall ein klarer Verstoß gegen die Pflicht besteht, Menschen vor Zurückweisung zu schützen. Es liegt in der Verantwortung jedes Staates, diesen Schutz allen Menschen zu gewähren – sowohl innerhalb des eigenen Territoriums als auch in Gebieten außerhalb, in denen ein Staat die alleinige Kontrolle über eine Person ausübt.“
Um elf Uhr ist die Anhörung zu Ende. Die Richter ziehen sich zur Beratung zurück. Anwalt Lana und sein jüngerer Kollege wirken erleichtert. Rechnen sie damit, den Prozess zu gewinnen? „Ich hoffe es“, sagt Lana. «Ich bin seit 20 Jahren in diesem Gebäude tätig. Man muss hier dem Recht immer wieder zum Durchbruch verhelfen.“ Was wäre ein Erfolg? „Dass die Kläger als Asylsuchende anerkannt werden, und es nie mehr zu solchen Push-Back-Operationen kommt.“ – Darin liegt die Brisanz des Falles Hirsi et autres, unabhängig vom veränderten Umgang Europas mit Libyen, das nun mit Bomben statt Geld eingedeckt wird.
Andrea Saccucci, der andere Anwalt der Kläger, erzählt von den Schwierigkeiten, mit seinen Mandanten in den Kriegswirren Kontakt zu halten. Im Moment besteht der nur zu drei Personen. „Zwei der Kläger“, sagt Saccucci, „sind beim erneuten Versuch, übers Mittelmeer zu gelangen, ums Leben gekommen: Said Salih aus Eritrea Ende 2009 und Hasan Shariff Abbirahman aus Somalia – das war im März 2011.“
Das Urteil wird in Straßburg Ende des Jahres erwartet.